Mittwoch, 5. Oktober 2011

Die Maske



In einem Traum habe ich dir die Maske abgenommen. - Das war nicht einfach. - Eine große Decke habe ich auf dem Boden ausgebreitet und noch eine weitere darauf gelegt, damit es etwas weicher wurde, ein kleines Kissen für den Kopf und über diesem Lager habe ich ein großes, weißes Leinentuch aus dem Nachlass meiner Mutter glatt gestrichen. Viele Gipsbinden, eine Schere und ein Handtuch habe ich neben dem Kopfteil bereit gelegt und Vaseline, eine Schüssel für die Gipsstreifen, eine Schale mit warmem Wasser und ein Fläschchen Öl dorthin gestellt, wo ich neben deinem Kopf sitzen würde; zwei Röhrchen musste ich suchen und fand sie im untersten Fach eines kleinen Schränkchens. Ich bat dich, dich auf dem Rücken hinzulegen, auszustrecken und zu entspannen. Eine Zudecke musste ich holen und aus einem großen Badetuch eine Rolle wickeln, die ich unter deine Knie legte. Musik wolltest du nicht hören. Nachdem ich dir gesagt hatte, dass du dich darauf konzentrieren solltest, ruhig zu atmen und besonders auf die Entspannung deines Gesichts zu achten, schwiegen wir.
Ich hockte mich neben dich und begann, die Gipsbinden in viele kleine Stückchen zu zerschneiden ohne zu wissen, wie viele ich brauchen würde, um später drei Schichten auf dein Gesicht zu legen. Als sich in der Schüssel ein kleiner Berg türmte, wusch ich mir die Hände, setzte mich so an das Kopfende, dass dein Kopf nahe an meinem Schoss lag und ich die Beine links und rechts von deinen Schultern ausstrecken konnte. Ich nahm das Ölfläschchen, träufelte ein paar Tropfen in meine Hände und begann, sie in dein Gesicht ein zu massieren, vom Kinn an beidseitig die Wangen hoch an den Schläfen entlang zur Stirn und wieder abwärts mit sanften Fingerspitzen über die ein wenig zitternden Augenlider, den Nasenrücken - die Nasenflügel bebten leicht in der Atmung - die Lippen, das Kinn und auch der Hals wurden massiert. Es wiederholte sich von unten nach oben, von oben nach unten, ein paar Male, bis das ganze Gesicht das Öl in seinen Poren aufgenommen hatte und die Muskulatur mir entspannt schien, gut vorbereitet für die Schicht aus Vaseline.
Mir war nicht recht klar, wie ich mit den Augenbrauen - den langen borstigen - und dem Oberlippenbart umgehen sollte; der Haaransatz musste abgedeckt werden. Ich stand auf und holte Wattestäbchen. Mit denen verteilte ich zunächst Öl und dann Vaseline auf die Barthaare, die Augenbrauen und das Haar neben den Ohren. Jedes Härchen musste einzeln ummantelt werden. Du atmetest ruhig. - Warst du eingeschlafen? - Ich musste noch einmal aufstehen, um einen Kamm zu holen. Mit reichlich Vaseline an den Fingerspitzen strich ich das Kopfhaar aus dem Gesicht und glättete es mit dem Kamm nach hinten. Mit reichlich Vaseline wurde anschließend die gesamte Maskenfläche eingesalbt.
"Die erste Schicht Gips ist die einfachste. Bei der zweiten fängt sie bereits an zu härten. und die darunter liegende Haut lässt sich kaum bewegen. Sie fühlt sich nach und nach beinahe so starr an wie die Maske selbst. Da wird der Mimik bewusst, dass sie zur Maske wird, und das Gefühl breitet sich im Körper aus. Du wirst das merken. Jeder merkt das in dieser Situation. Wenn du es nicht aushältst, können wir sofort abbrechen. - Ich fange jetzt an.", sagte ich. Du nicktest. Also warst du nicht eingeschlafen. Ich wischte meine Hände in einem Zipfel des Lakens ab und begann, Gipsstreifen für Gipsstreifen in die Wasserschüssel zu tauchen und auf dein Gesicht zu legen. Streifen für Streifen strich ich glatt und passte ihn Stück für Stück dem Gesicht an, bis die erste Schicht verlegt war. Nur die Nasenlöcher blieben frei. Im Gips entschwanden deine Falten meinem Blick. Widerborstig waren Augenbrauen und Schnauzbart; ich musste sie noch einmal mit Vaseline einstreichen, damit der Gips nicht an ihnen haftete. Als ich mit der zweiten Schicht das Kinn erreichte, war es schon starr. Aus deinen Nasenlöchern kamen kleine Geräusche, deine Atmung war etwas schneller geworden, dein linker Oberarm zuckte, und du machtest mit den Füssen kleine, kreisende Bewegungen. Bevor ich mit der dritten Schicht anfing, machte ich eine Pause und forderte dich auf, ein wenig mit der Gesichtsmuskulatur zu spielen. Viel Spielraum gab es nicht; die kleine Bewegung lockerte die Gipsschicht von der Haut. Zumindest an den meisten Stellen.
Ich begann mit der dritten Schicht. Die Maske war schon ziemlich hart. Du spürtest darunter bereits nicht mehr, wo ich den nächsten Gipsstreifen auflegte. An der Nasenspitze angelangt, sagte ich: "Ich führe jetzt vorsichtig die Röhrchen in die Nasenlöcher." Dann führte ich ganz behutsam die beiden Röhrchen ein, konnte die Nasenflügel und den Steg modulieren und die dritte Schicht bis unterhalb des Kinns beenden.
"Jetzt musst du noch ein wenig Geduld haben, bis die Maske vollkommen ausgehärtet ist.", sagte ich und stand auf, um mir im Bad die Hände zu waschen. Ich schlüpfte in deinen Körper hinein und fühlte, wie du dich fühlen musstest, fühlte, was ein Toter nicht fühlen kann, wenn ihm die Maske abgenommen wird. Sie ist unbequem. Die Mimik erstarrt. Du weißt nicht mehr, was Innen- oder Aussenhaut ist. Ich erinnerte mich daran, wie meine Tochter mir einmal die Maske einer ständig grinsenden Mitschülerin vorführte. "Da kriegt man ja Muskelkater, wenn man immer grinst. Das tut doch weh!" - So ist es mit dem Starren.
Ich sah es in dir arbeiten, konzentriert am Schreibtisch sitzend oder einem Vortrag lauschend, die Stirnfalten auf den Punkt zwischen den Augenbrauen zusammen gezogen, dorthin von wo aus immer die Kopfweh kommen. Da sind dann im Laufe der Jahre die tiefen Falten entstanden, die sich nicht mehr glätten lassen. Ich schlüpfte wieder hinaus aus deinem Körper. Es war mir zu eng. Bis es soweit war, dass wir die Maske abnehmen konnten, räumte ich die Utensilien fort, füllte die Wasserschüssel mit warmem Wasser, legte einen Waschlappen, Watte und ein Handtuch bereit.
"Jetzt musst du noch einmal deine Gesichtsmuskeln soweit wie möglich in alle Richtungen bewegen, damit sie sich lockert!", sagte ich. Ich hatte mich wieder so hingesetzt, dass dein Kopf nahe an meinem Schoss lag und ich die Beine seitlich deiner Schultern ausstrecken konnte. Dein linker Oberarm zuckte. Du stöhntest. Aus deinem Brustkorb drang dieses tiefe Brummen, das ich nie gelernt habe zu imitieren. Ich entfernte die Röhrchen aus den Nasenlöchern. Mit meinen Fingerspitzen begann ich, die Maske an den Aussenkanten zu lockern. Ganz behutsam, damit sie nicht bröckelten, hob ich sie an. Mit einem schmatzenden Geräusch liess sie sich von deinem Gesicht lösen. Auch das Barthaar und die Augenbrauen waren kein Problem, wie ich befürchtet hatte. Dein Gipsgesicht hielt ich nun in meinen Händen, legte es behutsam zur Seite, tauchte etwas Watte ins warme Wasser, mit der ich sanft die Vaseline von deinen Augenlidern entfernte. Als ich innehielt, öffnetest du deine Augen, dein Mund begann zu lächeln, und du blicktest mich mit diesem Strahlen an, das du lange nicht an dir hattest.
Mit neuer Watte entfernte ich die restliche Vaseline vom Gesicht, wusch es mit Waschlappen und warmem Wasser ab und tupfte es mit dem Handtuch trocken. - Ich stand auf, brachte die Schüssel ins Bad und nahm die Wolldecke, die dich bedeckte, hoch, faltete sie zusammen und sagte: "Du kannst jetzt langsam aufstehen, - langsam, hörst du?" 

(c) christA frontzeck

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