Donnerstag, 10. Oktober 2013

Herbstphilosophie aus Kindertagen





... Von der großen Eiche am Wiesenrand fiel das Laub. Es fiel von allen Bäumen. Ein Ast der Eiche stand hoch über den anderen Zweigen und langte weit hinaus zur Wiese. An seinem äußersten Rand saßen zwei Blätter zusammen.
"Es ist nicht mehr wie früher", sagte das eine Blatt.
"Nein", erwiderte das andere. "Heute Nacht sind wieder viele von uns davon... wir beide sind schon die einzigen hier auf unserem Ast."
"Man weiß nicht, wen es trifft", sagte das erste. "Als es noch warm war und die Sonne noch Hitze gab, kam manchmal ein Sturm oder ein Wolkenbruch, und viele von uns wurden damals schon weggerissen, obgleich sie noch jung waren. Man weiß nicht, wen es trifft."
"Jetzt scheint die Sonne nur selten", seufzte das zweite Blatt, "und wenn sie scheint, gibt sie keine Kraft. Man müßte neue Kräfte haben."
"Ob es wahr ist", meinte das erste, "ob es wohl wahr ist, daß an unserer Stelle andere kommen, wenn wir fort sind, und dann wieder andere und immer wieder..."
"Es ist sicher wahr", flüsterte das zweite, "man kann es gar nicht ausdenken... es geht über unsere Begriffe"
"Und man wird auch zu traurig davon", fügte das erste hinzu.
Sie schwiegen eine Zeit. Dann sagte das erste still vor sich hin: "Warum wir wegmüssen...?
Das zweite fragte: "Was geschieht mit uns, wenn wir abfallen...?"
"Wir sinken hinunter..."
"Was ist da unten?"
Das erste antwortete: "Ich weiß es nicht. Der eine sagt das, der andere sagt dies... aber niemand weiß es."
Das zweite fragte: "Ob man noch etwas fühlt, ob man noch etwas von sich weiß, wenn man dort unten ist?"
Das erste erwiderte: "Wer kann das sagen? Es ist noch keins von denen, die hinunter sind, jemals zurückgekommen, um davon zu erzählen."
Wieder schwiegen sie. Dann redete das erste Blatt zärtlich zum anderen: "Gräm dich nicht zu sehr, du zitterst ja."
"Laß nur", antwortet das zweite, "ich zittere jetzt so leicht. Man fühlt sich eben nicht mehr so fest an seiner Stelle."
"Wir wollen nicht mehr von solchen Dingen sprechen", sagte das erste Blatt.
Das andere entgegnete: "Nein... wir wollen es lassen... Aber... wovon sollen wir denn sonst sprechen?" Es schwieg und fuhr nach einer kurzen Weile fort: "Wer von uns beiden wohl zuerst da hinunter muß...?"
"Damit hat's noch Zeit", beschwichtigte das erste. "Erinnern wir uns lieber, wie schön es war, wie wunderbar schön!" Wenn die Sonne kam und uns so heiß brannte, daß man zu schwellen glaubte vor Gesundheit. Weißt du noch? Und dann der Tau in den Morgenstunden... und die linden, herrlichen Nächte..."
"Jetzt sind die Nächte furchtbar", jammerte das zweite, "und nehmen kein Ende."
"Wir dürfen uns nicht beklagen", sagte das erste mild, "wir haben länger gelebt als viele, viele andere."
"Ich bin wohl sehr verändert?", erkundigt sich das zweite Blatt schüchtern, aber dringend.
"Keine Spur", beteuerte das erste, "du glaubst wohl, weil ich so gelb und häßlich geworden bin. Nein, bei mir ist das etwas anderes..."
"Ach, geh", wehrte das zweite ab.
"Nein, wahrhaftig", wiederholte das erste voll Eifer, "glaub mir doch! Du bist so schön wie am ersten Tag. Hier und da vielleicht ein kleiner Streifen, kaum zu merken, und der macht dich nur noch schöner. Glaub mir doch!"
"Ich danke dir", flüsterte das zweite Blatt gerührt. "Ich glaube dir nicht... nicht ganz... aber ich danke dir, weil du so gut bist... du bist immer so gut zu mir gewesen... ich begreife es jetzt erst ganz, wie gut du warst."
"Schweig doch", sagte das erste und verstummte selbst, denn es konnte vor Kummer nicht mehr reden.
Nun schwiegen beide. Die Stunden vergingen. Ein nasser Wind strich kalt und feindselig durch die Baumwipfel.
"Ach... jetzt...", sagte das zweite Blatt, "... ich ..." Da brach ihm die Stimme. Es ward sanft von seinem Platz gelöst und schwebte hernieder. - Nun war es Winter. 


(aus: Felix Salten, Bambi)

Dienstag, 12. März 2013

"Wir können nichts dafür!"?

Erst gestern ist es wieder passiert! An der Kasse eines Biomarktes fragte eine Kundin, ob der Kassierer mit dem Preis bei den Bananen runter gehen könne, weil sie schon etwas angegriffen aussahen. Er sagte: "nein, das dürfen wir nicht. die dürfen eigentlich gar nicht mehr verkauft werden, die gehen ohnehin morgen zur Berliner Tafel." - "wir können nichts dafür!" sagt er später nach kurzweiliger Diskussion mit der Kundin.

"Wir können nichts dafür! ... Der Gesetzgeber hat..." - Das höre ich oft.

Meine Mutter, eine von vielen, die von 1933 - 1945 als junger Mensch in den Hitlerjahren lebte, hat später manchmal gesagt: "Sicher, es gab Sachen, die nicht so schön waren, aber wo gibt es die nicht?" und "Wir konnten aber nichts dafür."

Was, frage ich mich, ist der Unterschied zwischen dem "Wir konnten aber nichts dafür." von damals und dem ""Wir können nichts dafür!" von heute? (c.f.)

Freitag, 1. März 2013

„2 DOSEN -Hund“ und...




2 DOSEN -Hund“ und...


Küchenzettel, Fenster und andere Geschichten vom Alltag
Eine Installation von christA frontzeck


28.3.2013 18 - 22 Uhr (Vernissage, Performance ca. 20 Uhr)


Weekend Gallery, Schloßstr. 62, 14059 Berlin


Öffnungszeiten:

29.3.2013  nach telefonischer Vereinbarung

30.3.2013 14 - 20 Uhr

31.3.2013 14 - 20 Uhr

01.4.2013 14 - 20 Uhr


Während der Komiker Wigald Boning über Ostern in Berlin mit zwei Shows “Butter, Brot und Läusespray” verrät, was er seit 1999 durch das Sammeln von "Listen" erfahren hat, zeigt die Künstlerin christA frontzeck 2 DOSEN -Hund“ und... In der Weekend Gallery, Berlin-Charlottenburg, wird eine Installation aus seit 1995 gesammeltem Zettelkram verbunden mit Fotografien von Fenstern und Texten zu sehen sein.

Erstmalig hat sich die Berliner Künstlerin 1991 "verzettelt" mit ihrer Aktion Neue Wellen. Sie war der Meinung, es gebe mehr Leser von Botschaften, die an Bäumen hingen als Leser von Büchern.

1995 begann sie, handgeschriebene Einkaufszettel u.a. Botschaften zu sammeln, die sie ab 1998 in div. Installationen und Aktionen präsentiert.

"Wir waren 1998 - 2001 in Deutschland wohl 4, 5 oder 6, die unterschiedlich mit ihren Sammlungen in der Öffentlichkeit auftraten", erzählt die Künstlerin, "gelegentlich gab es Artikel in den Medien (s. Links); Verlage hatten kein Interesse an Buchpublikationen mit "Zettelkram", was sich in den letzten Jahren geändert hat. - Viele habe ich seither mit Geschichten über diese Fundstücke verblüfft und amüsiert, manche haben das scheinbar Banale tatsächlich als aussagekräftig zum Zustand unserer Gesellschaft gesehen, wie ich das tat. Im Salon von Nikolaus Sombart traf ich vor Jahren einen Soziologen, der neidisch auf meine Sammlung war, als ich mit ihm darüber sprach. "Wie, die haben sie alle einfach nur so für sich, die Zettel?!", war seine Reaktion.“

Sie lassen sich ulkig betrachten; viele Menschen amüsieren sich, wenn sie jetzt in Büchern blättern können wie "Absender unbekannt", „Badeschaum und Shrimps“, "Wellensittich entflogen. Farbe egal", "Butter, Brot und Läusespray" oder sich in den Ostertagen die Installation 2 DOSEN -Hund“ und... anschauen. Es gibt einiges zu lachen und einiges zum Nachdenken.“
Für christA frontzeck sind die Zettel nach jahrelanger Erfahrung schon lange nicht mehr nur ulkig. Sie sind 'vielleicht' tragikomisch. - Inzwischen ergänzen sie sich für die Künstlerin mit den Fotos von Fenstern, die sie im Laufe der Jahre gemacht hat und den ALLTAGSGESCHICHTEN, von denen sie viele aufgeschrieben hat. "Drei tragikomische Bereiche, die viel von der Verwahrlosung unserer hochgelobten Wohlstandsgesellschaft erzählen.", sagt sie und fragt: "Wann fängt denn nun die Weltverbesserung endlich an?"

http://www.MoreThanArt.net




Links:

Frankfurter Rundschau, 9.7.98, Rolls/Traubenz/Stöffche/H-Milk (Sandra Dranicke)
(Die Facebook-Links können nur von denen geöffnet werden, die bei fb angemeldet sind; den Link bitte kopieren und in die https-Zeile eingeben!)

TAGESSPIEGEL v. 19.4.1991 / die tageszeitung, Berlin Programm v. 19.-21.4.1991
Zitty 22/96
ZEITPUNKTE, SFB, 2.12.1998




Mittwoch, 13. Februar 2013

Was beim Anspitzen eines Bleistifts übrig bleibt – abgesehen vom Stummel

Sind wir nicht alle so 'abgeschriebene' Stummel, die ihren Abrieb in Krümeln und kleinen Häufchen hinterlassen?


„Was das ist, weiß doch jeder!“, sage ich und halte mit der linken Hand den Bleistift hoch. „Und was das ist, weiß auch jeder!“ Die rechte Hand führt den Anspitzer vor. „Und wie heißt, was beim Anspitzen herauskommt?“, frage ich und spitze an.

„Bloastiftschnipsiin!“, ruft einer, „heißt das bei uns in Bayern.“ - „Buntholzzacken!“, ruft ein anderer. – „Anspitzöttel würden wir im Ruhrgebiet sagen!“ – „Spitzerdriss im Rheinland!“

Es folgen „Holzzotteln!“, „Holzbleirosetten!“, „Bleiholzkräusel!“, „Trichterschnuppen!“ und andere Wortschöpfungen, die meine Sammlung von bis dato 70 Begriffsfindungen in 30 Minuten vor Publikum auf 105 erweitern. Bei Faber Castell haben sie auf der Website nur zwei: „Spanabfall und Minenstaub“ und „Spitzabfall“. Am Ende dieser Performance hatte ich etliches an „getrichterten Zwirbeln“ produziert und hielt einen Stummel in der Hand, ein neues Objekt für meine Serie "Blei- und Farbstiftzeichnungen“:

Abgespitztes, Abspitzsternchen, Abspitzlinge, Anspitzabfall, Anspitzbrösel, Anspitzdreck, Anspitzdrehlinge, Anspitze (Aangspitze, schwäb.), Anspitzermüll, Anspitzflocken, Anspitzkehricht, Anspitzkrümel, Anspitzmüll, Anspitzöttel (Ruhrgebiet), Anspitzraspel, Anspitzreste, Anspitzschale, Anspitzschnibbel, Anspitzspäne, Anspitzsperrmüll, Anspitzstaub, Anspitzwürmchen, Bleianspitzrosetten, Bleiholzdrehwürmer,  Bleiholzklein, Bleiholzkräusel, Bleiholzschnitzel, Bleiholzspiralen, Bleikrümel, Bleispäne, Bleispänitos, Bleispankringel, Bleispitzeln, Bleispitzerlinge, Bleispitzwürmchen, Bleistiftabfall, Bleistiftanspitzabfall, Bleistiftanspitzmüll (Kurzform: Bleimü), Bleistiftanspitzreste, Bleistiftanspitzzedernfächer, Bleistiftanspitzzedernrose, Bleistiftbearbeitungsreste, Bleistiftblume, Bleistiftbrösel, Bleistifthobelspäne, Bleistiftkränzchen, Bleistiftkringel, Bleistiftmüll, Bleistiftmüsli, Bleistiftraspeln, Bleistiftregen, Bleistiftreste, Bleistiftringelschwänzchen, Bleistiftschale, Bleistiftscheibchen, Bleistiftschnitzel, Bleistiftschorfabfall, Bleistiftslocken, Bleistiftspäne, Bleistiftspitzerschatten, Bleistiftsplitter, Bleistifttrümmer, Bleistiftwölkchen, Bleistiftwürmlinge, Bleiumhüllungslöckchen,  Bloastiftschnippsiin, Buntholzzacken, das Abgespitzte, Drehspan, getrichterte Zwirbel, Hobelbleispäne, Holzbleirosetten, Holzfuseln, Holzmäntelchen, Holzspankringel, Holzteppich, Holzummantelungsabfall, Holzwieauchimmer, Holzwurst, Holzzotteln, Pfefferspänchen, Raspelblüten, Ringelholz, Schnipsel, Schreibabdreh, Spanabfall und Minenstaub (Faber Castell), Spanschnuppen, Spiralmüll, Spitzabfall (Faber Castell), Spitzerdriss (rheinisch), Spitzerköttel, Spitzermist, Spitzerreste, Spitzerschnibbel, Spitzerschnipsel, Spitzerschnitzel, Spitzspan, Spitzerspäne, Stiftabfall, Stiftdrumrum, Stifthemd, Stiftkreide, Stiftschnitze, Trichterschnuppen, Zierspan.