Mittwoch, 15. Dezember 2010

Adventskalender


(1) "Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, denn wir schaffen sie selbst. Sie liegt in unserem Herzen eingeschlossen." - Fjodor M. Dostojewski

Damit fing es an, und ich wunderte mich über diese Postkarte, die ich rückseitig unbeschrieben in meinem Briefkasten fand. "Grußkarte aus: Der kleine Adventsschatz (c) 2003 Coppenrath Verlag..." steht dort oben links klein gedruckt. Rechts oben, wo sonst eine Briefmarke klebt, gibt es einen kleinen goldenen Aufkleber mit der schwarzen 1.

Es folgten:

(2) "Ich wünsch mir was! Was ist denn das? Das ist ein Schloss aus Marzipan mit Türmen und Rosinen dran. Und Mandeln an den Ecken. Ganz zuckersüß und braungebrannt und jede Wand aus Zuckerland - Da kann man tüchtig schlecken! Und Diener laufen hin und her mit Saft und Marmelade. Und innen in dem Schlosse drin, wohnt meine Frau die Königin, die ist aus Schokolade." - Überliefert

(3) "Du erinnerst dich. einst, jedes Morgenrot war uns ein Triumphzeichen. Die Welt lag uns zu Füßen. Weißt du noch? Weißt du noch? Das Weltall war und war nicht mehr, oder es war nur ein durchsichtiger Schleier, durch den ein helles Licht strömte, ein Licht der Gnade, von allen Seiten her, ein Licht von vielfachen Sonnen. Das Licht durchdrang uns und umgab uns wohlig warm. Wir fühlten uns licht, fühlten uns in einer Welt, die ihre Schwerkraft verloren hatte, staunend, zu existieren, glücklich, dazusein. Das ist Liebe. Das ist die Kraft des jungen Herzens." - Eugène Ionesco

Beide Karten waren wie die erste rückseitig unbeschrieben, "Grußkarten aus: Der kleine Adventsschatz (c) 2003 Coppenrath Verlag...", mit goldenem Aufkleber, auf dem die Zahlen in schwarz prangen und jeweils das Datum des Kalendertages zeigten. Da begriff ich, dass sich jemand vorgenommen hat, mir auf diese Weise einen Adventskalender zu bescheren, und es begann das kleine Rätselraten, wer mir wohl diese Karten einwirft. Sie kommen ja nicht mit der Post. Ist es jemand aus dem Haus? Wer könnte das sein? Oder kommt etwa jemand von außen täglich vorbei, verschafft sich durch Klingeln Einlaß?

Ich fuhr dann ein paar Tage lang weg. - Als ich am 10. Dezember zurückkam, fand ich tatsächlich sieben weitere Karten in meinem Briefkasten.

(4) "Die Liebe hemmet nichts, sie kennt nicht Tür noch Riegel und dringt durch alles sich. Sie ist ohn Anbeginn, schlug ewig ihre Flügel und schlägt sie ewiglich." - Matthias Claudius

(5) "Die Welt hat allzuwenig Engel und der Himmel fließt von ihnen über." - Samuel Taylor Coleridge

(6) Diese Karte ist etwas größer als die anderen. Vor einem gutroten Himmel stapft ein Nikolaus mit seinem Schlitten durch den Schnee. Umseitig unten links Kleingedrucktes "Karl-Heinz Raach hat den Weihnachtsmann fotografiert (c) Verlag Herder Freiburg" - Ah, das soll also der Weihnachtsmann sein und nicht der Nikolaus!

Die folgenden Karten sind wieder Grußkarten aus dem kleinen Adventsschatz.

(7) "Wünsche soll man nicht aufgeben. Ich glaube, es gibt keine Erfüllung, aber es gibt Wünsche, die so lange vorhalten, das ganze Leben lang, dass man die Erfüllung doch gar nicht abwarten könnte." - Rainer Maria Rilke

(8) "Helle Länder sind deine Augen. Vögelchen sind deine Blicke, zierliche Winke aus Tüchern beim Abschied. In deinem Lächeln ruh ich wie in spielenden Booten. Deine kleinen Geschichten sind aus Seide. Ich muss dich immer ansehen." -  Albert Lichtenstein

(9) "Gönn dir Zeit, um zu träumen - es ist der Weg zu den Sternen. Gönn dir Zeit, um nachzudenken - es ist die Quelle der Kraft. Gönn dir Zeit, um zu lachen - 
es ist Musik für die Seele. Gönn dir Zeit, um zu lieben - es ist der Reichtum des Lebens. Gönn dir Zeit, um freundlich zu sein - es ist das Tor zum Glück." - nach einem alten irischen Gebet

(10) "Sie kommen noch immer durch den aufgebrochenen Himmel, die friedlichen Schwingen ausgebreitet, und ihre himmlische Musik schwebt über der ganzen müden Welt." - William Shakespeare

(11) "Wohl schaut ihr die Sterne weit, ohne Zahl, doch bleiben sie ferne euch allzumal. Mir leuchten zwei Sterne mit süßem Strahl, die küss ich so gerne vieltausendmal." - Joseph von Eichendorff

(12) "Ich kenne ein Bäumchen gar fein und zart, das trägt euch Früchte seltener Art. Es funkelt und leuchtet mit hellem Schein weit in des Winters Nacht hinein. Das sehen die Kinder und freuen sich sehr und pflücken vom Bäumchen und pflücken es leer." - Überliefert

(13) "Die Schutzengel unseres Lebens fliegen manchmal hoch, dass wir sie nicht mehr sehen können, doch sie verlieren uns niemals aus den Augen." - Jean Paul 

Als ich am 14. mittags aus dem Haus ging, war zwar der Briefträger schon da, und ich hatte liebe Post von einer Freundin; die Adventskarte fehlte. Am Abend war ich erleichtert, als ich sie fand.

(14) "Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen!" - Aurelius Augustinus

(15) "Ich habe Bänder gezogen von Kirchturm zu Kirchturm. Girlanden von Fenster zu Fenster, goldene Ketten von Stern zu Stern - und ich tanze." - Arthur Rimbaud

Tja, nun sitze ich da vor diesem Bündel unbeschriebener Grußkarten, und bin gespannt, ob sich das Geheimnis am 24. Dezember offenbart.




2 Kommentare:

  1. Na, das ist doch mal n Adventsüberraschungskalender :]

    Wenn man jetzt "fies" wäre, dann setzte man sich einfach auf die Treppe vor den Briefkasten und wartete.

    Aber wer ist schon fies?

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  2. 16

    Bald schreiben einem die Tanten,
    die Kranken,
    die im Alter noch,
    ans Christkind glauben.

    Klingelingeling,
    hereinspaziert,

    Weihnacht ist's,
    wie jedes Jahr
    um diese Zeit.
    Das illustre Buntpapier weggerissen
    mit großen Augen draufgeschaut
    aufs Drin
    des eben noch Verpackten


    Hurra, hurra:

    die Eisenbahn aus Schokolade


    Das Christkind dämmert schon
    rachitisch osteoporös
    zum Schlaf der Gerechten


    (frei nach und im Duktus von Gottfried Benn)

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