Donnerstag, 24. November 2011

Als sie...


Als sie 70 ist, zeigt sie mir einen mit Postkarten prall gefüllten Schuhkarton, die sie aus ihrem Leben aufbewahrt hat. Bei Durchsicht finde ich eine Karte: „Liebe Inge, herzlichen Glückwunsch zu Deinem 16. Geburtstag. Ist es bei Euch auch so kalt? Heil Hitler! Dein Reinhard“. - Der 16. Geburtstag ist im Januar 1937. Auf der Vorderseite ein schwarzweiß Foto: Adolf Hitler in Uniform, er schüttelt einem anderen in Uniform die Hand. Sie stehen auf einer Wiese, Gebirge rundum. Diese Postkarte war damals ein Renner. - Sie steht neben mir, als ich die Karte in der Hand halte und sie frage: „Darf ich die haben?“ – „Oh!“, sagt sie schnell, „Meinen Adolf?“ - , mit einem glücklichen Klang in der Stimme, Wehmut und Sehnsucht nach einer Zeit, in der sie froh war, geschützter und aufgehobener als in jeder anderen Zeit ihres Lebens, dankbar für Freundschaften. Ich sehe sie 14jährig zwischen ihren Mitschülerinnen am Straßenrand stehen, im weißen Kleid, einen Blumenstrauß in der Hand, ausgewählt, um ihn dem Führer zu überreichen. Sehe sie 15jährig mit Onkel und Tante, bei denen sie lebt, um die Mittelschule zu besuchen, vor dem Volksempfänger sitzend, Adolfs Reden mit Bewunderung lauschend, im Anschluss kartenspielend oder singend. Sehe sie ein Jahr später den Gruß in den Händen haltend, verträumt an Reinhard denkend. - Nicht durch den Text sondern durch die Betrachtung des Fotos wird sie mit 70 plötzlich 16jährig in Haltung, Stimme und Mimik. Sie sieht ganz jung aus, wie sie in diesem Erinnern neben mir steht. Da ist es unmöglich, Fragen nach dem Bösen zu stellen. Später erzählt sie von ihrer Verschüttung unterm Hauptbahnhof in Dresden und dem langen Heimweg mit dem Rad in Etappen bis nach Schleswig-Holstein. Durchgeschlagen haben sie sich, sie und ihre Kameradin, in dem sie für die Besatzer kochten. Zum Geburtstag ihres Vaters erreichte sie den elterlichen Hof, 24 Jahre jung, der Zwillingsbruder war im Krieg gefallen. „In Bergen-Belsen hatten die Amerikaner Leiche neben Leiche am Straßenrand aneinandergereiht. Da habe ich zum ersten Mal gesehen, dass…“, sagt sie und spricht nicht weiter. - „Ihr habt ja keine Ahnung!“, sagt sie ein paar Jahre später zornig.

Als sie 80 ist, sieht sie eine Folge „Hitler und seine Frauen“ im Fernsehen. „Ich kenne sie ja alle“, sagt sie. „Das war ja meine Zeit. Ich wurde immer ausgewählt, weil ich so blond war und so blaue Augen hatte.“ – Aber,“ sagt sie nach einer Weile, „ich gehörte nicht zu denen, die sich nach einem Händeschütteln wochenlang nicht die Hände gewaschen haben.“

© christA frontzeck

Donnerstag, 3. November 2011

Engel werden



Sie sitzt hinterm Pfeiler, nicht weil sie sich versteckt hat, sondern weil sie dort lebt. - Zwei Männer stehen auf der Brücke.

- "Weißt du?", sagt der eine, "es ist seltsam - auf meinem Rücken... - ja ... - wie soll ich es sagen?" Der andere raucht; sie starren auf den dunklen Fluss. - "Nun red schon!", sagt er. - "Ich hab's schon meinem Arzt gezeigt." - "Was?" - "Der sagt, so etwas habe er noch nie gese­hen." - "Ja was denn?!", fragt der andere ungeduldig und schmeißt seine Kippe hinunter.
- "Kleine Daunenfedern!" - "Das ist jetzt nicht dein Ernst! - Du spinnst doch!" - "Nein!!!" - "So etwas gibt es nicht.", sagt der andere. - "Ich versteh's ja auch nicht.", sagt der eine, "samt­weich und hell wie von kleinen Küken." - "Zeig her!" - "Es ist zu dunkel hier." - "Du lügst.", sagt der andere und geht.
Der eine zieht sich aus und setzt sich auf das Brückengeländer. Als die Sonne aufgeht, fliegt er.
- "Ich habe gesehen, wie einer zum Engel wurde.", erzählt die Frau, die hinterm Pfeiler lebt, den Freunden. - "Du lügst.", sagen die und gehen fort. 

© christA frontzeck





(Foto: Ron Mueck, Angel, 1997)