Die Bücherladung auf dem Boden vor der Bücherwand im hinteren Zimmer bei X. hat mich an etwas erinnert, das ich völlig vergessen hatte. Als es noch viele Ofenheizungen gab, wurden Kohlen bestellt. Sammelbestellungen waren billiger, und noch billiger wurde es, wenn die Kohlenhändler Briketts und Eierkohlen nicht in die Keller trugen, sondern die Ladung vor dem Haus auf den Gehweg kippten. Ich erinnere mich an diese riesigen Brikett- und Eierkohlenhaufen, die die Mieter dann auf Schubkarren in ihre Kellerverschläge brachten. Dieses gemeinsame Handeln hat sicherlich den Hausgemeinschaften gut getan. Auf jeden Fall gab es viel mehr Hoffeste als heute.
Menschen leben isolierter mit dem Wahn, immer größer, immer schneller, immer weiter, immer besser, immer mehr...
Da bin ich wirklich froh, in meinem "Dorf" in der Hauptstadt zu leben! - Für Ende Mai haben übrigens die vielen, engagierten Ehrenamtlichen einen großen Flohmarkt organisiert. In allen Strassen können vor den Häusern Tische aufgestellt werden, und die Leute können ihren aussortierten Krempel anbieten. - Na ja, nun habe ich gerade meinen ausrangierten Küchenkleinscheiß inklusive unbenutztem Elektromesser, das mir meine Oma vor 30 Jahren mal geschenkt hat, in den Hospitzladen gebracht, außerdem hat mein Tapeziertisch meinen Umzug vor fünf Jahren nicht überlebt und mir fehlt ein Wagen für die Ladung, die ich gerne abgeben würde...
Was bei dem einen die Bücherladung ist, ist bei mir der Bilderstapel unterm Bett, den ich jetzt endlich angehen muss, weil ich sonst die Staffelei nicht hinterm Schrank verstauen kann, und das muss ich bis Montag geschafft haben, um Platz zu haben für die Sachen, die vor den Fenstern stehen. Montag und Dienstag kommen nämlich der Tischler und der Maler. - Wie kann man sich bloß mit der eigenen Arbeit so viel Arbeit aufhalsen? Mit und ohne Kräftemangel ist das alles schwer zu überblicken.
Mit Y., die mich ein paar Tage besucht hat und meint, sie sei ja schon sehr sortiert, hatte ich auch wieder diese Gespräche über das Viele. Selbst Z., ein alter Bekannter, den wir trafen, der eine große und kahle Wohnung hat, meinte, es müsse alles raus! Na ja, ich weiß schon, wo der seine "Ladungen" versteckt hat. Und wenn ich an das Haus meiner Mutter denke, das ja auch bald mal aufgelöst werden muss, wird mir ganz schlecht. "Eigentlich" darf keiner die Nachwelt mit so einem Krempel belasten.
Was wir da im Kleinen machen, macht die Politik im Großen, scheint mir. Ich glaube, die blicken jetzt mit ihrem EU-Rettungsschirm überhaupt nicht mehr durch. Deutschland, so hieß es am Sonntag in Brüssel, habe Vorbildcharakter mit der Schuldenbremse. Da musste ich laut lachen.
Berlin - Ausnahmezustand im Regierungsviertel. Wieder kommen die Fraktionen zu Sondersitzungen zusammen. Wieder geht es um Milliarden. Nur der Betrag hat sich versechsfacht. Bewilligten die Abgeordneten in der vergangenen Woche noch mehr als 20 Milliarden Euro Kreditlinien zur Rettung Griechenlands, so fordert Kanzlerin Angela Merkel nun 123 Milliarden Euro von ihnen. Für einen Rettungsschirm..., habe ich gelesen. Schnell mal 100 Milliarden drauf! Wen kümmert's?
Jetzt hickhacken die rum hier in der Regierung. Unglaublich. - Einerseits wegen der Rettung des Euros, andererseits wegen des Wahlergebnisses in NRW. Die CSU will dem "Rettungsschirm" nicht zustimmen, weil Frau Merkel sie zur Krisensitzung am Wochenende nicht eingeladen hat. Sie erklärt das mit der Aschewolke, wegen der wieder der Flughafen in München gesperrt war. Die Kanzelin und der Westerwelle haben eine schwere Zeit. Angie musste schon bekanntgeben, dass es nun leider mit den versprochenen Steuersenkungen nichts wird. Mal sehen, was sie heute noch für Zugeständnisse und Eingeständnisse machen muss. Und morgen?
Bei der Physiotherapeutin lag ich eine Weile in der Fangopackung und sah seltsame, hypnagogische Bilder hinter meinen geschlossenen Augen. Schemen waren es nur, die in rötlichem Nebel auftauchten, verschwanden, wieder auftauchten und sich ineinander verschoben. Es waren Köpfe von Menschen, Gesichter mit Brillen, junge, mittelalte, alte Gesichter. Mal tauchten sie mit dem ganzen Gesicht auf, mal seitlich im Profil, einmal sah ich einen Kopf und Schultern, einen Körper im Mantel, der sich abwendete und fortging. Ich kannte sie alle, diese Gesichter und auch in den verschiedenen Altersstufen; in jedem konnte ich Verwandtschaft ganz flüchtig erkennen: Vater, Großvater, Tochter, Großmutter, Bruder, Schwester, ich, Mutter... Und alle waren immer meine Mutter. - Boah! - Wenn ich wüßte, wie man so etwas filmisch umsetzen kann, würde ich es tun. Leider funktioniert der Fotoapparat nicht bei Bildern, die sich innen zeigen. Zeichnerisch ist es sicherlich eine unglaubliche Arbeit, das darzustellen, was ich gesehen habe. Da reichte nicht eine Zeichnung, 30 und mehr müssten es wohl werden.
Als die Physiotherapeutin wegen der Behandlung kam, wußte ich nicht, ob es nicht besser wäre, aufzustehen und zu gehen. Das habe ich dann doch nicht gemacht, hatte aber meine Mühe, mich in die Bauchlage zu drehen und wieder die Augen zu schließen. Und, sie kamen tatsächlich wieder, diese Bilder! Nicht eins ähnelte dem anderen, obwohl sich alle ähnelten und immer war es meine Mutter...
Ja, die sendet, meine Mutter (89). - Und die Bilder kommen an. - Ohne Internet. - Es gibt nicht viele Menschen, die das begreifen.
"Die Menschen werden unverbindlicher. Das ist ein Zeitgeistzeichen... Jeder geht seinen Weg mit der Kraft, die er hat und im Bemühen, sie ökonomisch einzusetzen...", hat E. mir geschrieben.
Das Unverbindliche, ein Zeitgeistzeichen? - Hmmh. - Na ja, ich könnte schreiben und schreiben und schreiben und... - oben an der Zimmerdecke sitzt eine Motte und unterm Bett warten die Sachen...
(c) christA frontzeck, Mai 2010